Sprachverwandtschaften

Die Anfänge wissenschaftlicher Beschäftigung

Historisch-komparatistische Ansätze

Der Germanist und Romanist Friedrich Diez (1794-1876)  gilt als Begründer der Romanischen Sprachwissenschaft. Er verfasste unter dem Einfluss von Jakob Grimms Deutscher Grammatik zwischen 1836 und 1843 die Grammatik der romanischen Sprachen und 1853 ein Etymologisches  Wörterbuch der romanischen Sprachen .
Bei beiden Grammatiken handelt es sich um Historische Grammatiken, die sich auf eine vergleichende, diachronische Beschreibung verwandter Sprachen beschränken. Der Begriff "Grammatik" wird hier nicht im modernen Sinn einer präskriptiven, deskriptiven oder generativen Grammatik gebraucht, sondern entspricht der im romantischen Zeitgeist verwurzelten Intention, den gemeinsamen  Ursprung und die Verwandtschaft von Sprachfamilien systematisierend zu beschreiben. In der traditionellen Forschung der Zeit wurde die Sprachverwandtschaft der Indoeuropäischen Sprachen als eine Art Stammbaum dargestellt:

IndogermanischerStammbaum

In der Romanistik ging es darum, bei gegebener Kenntnis des klassischen Latein das gesprochene Latein und damit die hypothetischen Formen des Protoromanischen zu rekonstruieren. Das Protoromanische wurde in seiner regionalen Vielfalt als Vorstufe aller romanischen Sprachen angesehen. Die vergleichende historische Sprachwissenschaft fand im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts Vertreter, die von ihren Gegnern gern "Junggrammatiker" (auch: Neogrammatiker) genannt wurden. Sie bemühten sich, die im Sprachwandel festzustellenden Regelmäßigkeiten als Gesetzmäßigkeiten zu begreifen, um dadurch in positivistischer Tradition die Sprachwissenschaft als eine exakte Naturwissenschaft definieren zu können. Dieser positivistische Ansatz, der bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts (und in der universitären Lehre in Deutschland sogar bis in die 60er Jahre)  wirkte,  ließ die historische Sprachwissenschaft (= diachrone) zur zentralen Wissenschaftskomponente  der frühen Romanistik werden. Der wohl bedeutendste Vertreter dieser Komparatistik war in Deutschland Wilhelm Meyer-Lübke (Grammatik der romanischen Sprachen, 1890-1902 und das REW genannte Referenzwerk: Romanisches etymologisches Wörterbuch , Heidelberg 1911).

Idealistische Sprachbetrachtung

Die Gegner der  neogrammatischen "Lautschieber" berufen sich gern auf die Tradition Wilhelm von Humboldts, der in den jeweiligen Sprachen ein Spiegelbild des Geistes sah. Karl Vossler (1872-1949) wurde zum bedeutendsten Vertreter der idealistischen Schule, für die Sprache und Kultur eine unabdingbare Einheit bildeten. Im Sprachwandel sah er keine Gesetzmäßigkeit, sondern eher den kreativen Akt des Individuums oder der Sprechergemeinschaft. Mit dem Ausgang des 2. Weltkriegs fand die idealistische Strömung, die teilweise zu abstrusen Vorstellungen über den "Nationalcharakter" von Sprache führte, ein allmähliches Ende.
Zu den zeitgenössischen Kritikern der Junggrammatiker ist Hugo Schuchardt (1842-1927) zu zählen, für den Sprachen das Ergebnis kontinuierlicher "Sprachmischung" darstellen.

Links zur Entwicklung der diachronen Sprachwissenschaft

Link zur Entwicklung der diachronen Sprachwissenschaft  (Linguistik-online.uni-kiel.de)

 

Saussure und der Strukturalismus

Der Genfer (indogermanistische) Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure stellt der diachronen Sprachbetrachtung erstmals eine synchrone entgegen: "La langue est un système, où tout se tient" ist die Maxime, die seine Sicht resümiert. Nur wenn man eine Sprache als ein sozial verankertes System von Beziehungen zwischen den sprachlich relevanten Elementen begreift, ist man auch in der Lage, historische Entwicklung zu verstehen. Die historische Entwicklung ist letztlich die Abfolge zahlreicher synchroner Schnitte durch das System einer Sprache. So verschob sich nach Saussure das Untersuchungsinteresse von der diachronen Sprachwissenschaft auf die Systemhaftigkeit, die Struktur von Sprache. Die strukturalistischen Schulen von Genf (C. Bally), Kopenhagen (L. Hjelmslev) und Prag (Cercle linguistique de Prague) und der französische Strukturalismus (A. Martinet, E. Benveniste) entwickelten die Analyseinstrumentarien der Phonologie, Morphologie und der strukturalen Syntax, die Grundlage wurden für die Deskription der modernen Linguistik.      
Für die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft hatte dies Folgen:  Die historisch vergleichende Sprachwissenschaft konfrontiert einen systematischen Systemvergleich von A und B. Die daraus entstandene Sprachtypologie beschäftigt sich mit dem synchronen Verhältnis bestimmter typologischer Merkmale der kontrastierten Sprachen und die kontrastive Linguistik ist ein auf den Spracherwerb angewandter Zweig der vergleichenden Sprachwissenschaft. Die Entwicklung der Dialektologie und der Sprachatlanten sowie den dazu gehörigen Forschungsbereichen erweitern die Kenntnisse über Sprachverwandtschaften.   
Die renommierte Société de Linguistique de Paris schloss kategorisch Beiträge aus, die sich mit dem "Ursprung von Sprache" beschäftigten.



 

 

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