Morpheme und Morphologie

Grundbegriffe der Morphologie

Aufgabe der Morphologie [auch Morphemik, Lehre von den Morphemen genannt] ist es, die kleinsten bedeutungstragenden Einheiteneiner Sprache zu ermitteln und ihren Strukturzusammenhang zu erklären. Um das Zeicheninventar einer Sprache nicht auf 12 bis 54 Zeichen begrenzt zu lassen (dies wäre der Fall, wenn man jedem Phonem eine Bedeutung zuwiese), muss man Phonemkombinationen verwenden, um bedeutungstragende Einheiten zu erhalten. Phoneme selbst sind nicht bedeutungstragend, sondern lediglich bedeutungsdifferenzierend . Dies belegen die drei Phoneme /i/, /e/ und /a/ in den Beispielworten:

Hausbesitzer
Hausbesetzer
Hausbesatzer

Phonemkombinationen (gelegentlich auch einzelne Phoneme), die Bedeutung tragen, nennt man Morpheme. Man unterscheidet zwischen grammatikalischen (gebundenen) und lexikalischen (ungebundenen, freien)  Morphemen.
Der Ausdruck "Monem" (monème) war in der Schule Andrés Martinets für das lexikalische Morphem gebräuchlich.                                                                                                                            

Die Wörter Pappel, Apfel, Engel, Mehl weisen außer dem auslautenden -l keine Gemeinsamkeiten auf. Versucht man, das -l- zu isolieren, so ergeben sich Pappe, Enge, aber auch Apfe und Meh. Die letzten beiden tragen überhaupt keine Bedeutungen. Pappe und Enge tragen lexikalische Bedeutungen, die mit Pappel und Engel nichts gemeinsam haben. Die Annahme, das -l sei das lexikalische Morphem für Substantive, erweist sich somit als falsch, da es auch andere Wortformen gibt, die auf -l ausgehen: viel, hell etc. Offensichtlich anders verhält es sich bei den Wörtern der Reihe:

singt, raubt, spielt

Trennt man das -t ab, so fällt auf, dass es in dem Zusammenhang die Bedeutung der 3. Person Singular Präsens übernimmt. Auch die Phonemfolgen sing-, raub-, spiel- tragen eine Bedeutung. Sie gehören zum Stamm der Verben singen, rauben, spielen. Im Gegensatz zu Pappel, Apfel, Engel, Mehl lassen sich die Wörter singt, raubt, spielt in zwei bedeutungstragende Einheiten zerlegen. Man nennt diese kleinsten bedeutungstragenden Einheiten der Sprache Morpheme. Das Morphem -t ist ein grammatikalisches, sing/raub/spiel sind lexikalische Morpheme.


 

Morphemermittlung anhand eines aztekischen Beispiels:

 

1.   ikalwewe             
2.   ikalsosol
3.   ikalci´n
4.   komitwewe
5.   komitsosol
6.   komitci´n
7.   petatwewe
8.   petatsosol
9.   petatci´n
10. ikalmeh
11. komitmeh
12. petatmeh
13. ko´yameci´n
14. ko´yamewewe
15. ko´yameilama
16. ko´yamemeh

1.   sein großes Haus          
2.   sein altes Haus
3.   sein kleines Haus
4.   großer Kochtopf
5.   alter Kochtopf
6.   kleiner Kochtopf
7.   große Matte
8.   alte Matte
9.   kleine Matte
10. seine Häuser
11. Kochtöpfe
12. Matten
13. kleines Schwein
14. großes männliches Schwein
15. großes weibliches Schwein
16. Schweine

  [Aus: Hans Bühler et al.,  Linguistik I, Tübingen 1971, S. 74]

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