Grapheme und Orthographie

Grapheme

Grapheme sind schriftsprachliche Notationen von Lauten. In der Geschichte der Entwicklung von Schriftsystemen war der Schritt von der Bild- und Lautsymbolschrift zur Phonetisierung der wichtigste Schritt. Im Idealfall müsste jedem Laut auch genau ein Buchstabe, ein Graphem entsprechen. Diese Entwicklung haben die Schriftsysteme Europas nicht erreicht, lediglich das Internationale Phonetische Alphabet folgt diesem Prinzip. Die heutigen romanischen Sprachen haben ihre Schriftsysteme zu unterschiedlichen Zeiten erhalten. Demnach spiegeln sich in den graphematischen Besonderheiten auch die verschiedenen historischen Perioden. Unter den Schriftsprachen ist das Rumänische wohl die Sprache mit der jüngsten schriftsprachlichen Tradition, wenn man die lateinische Schreibtradition betrachtet. Eine Grundregel kann man hier anwenden: Je jünger die Tradition einer Schriftsprache, desto näher sind die Grapheme für die Sprache an den Phonemen der gesprochenen Sprache. Je älter die schriftsprachliche Tradition, desto größer die Distanz zwischen der gesprochenen und der geschriebenen Sprache.

George Bernard Shaw hat sich einmal über die Graphie des Englischen amüsiert, indem er auf die potentiellen graphematischen Gegebenheiten dieser Sprache anhand des "Wortes" ghoti hingewiesen hat. Er verdeutlichte, dass man dieses Wort fish aussprechen könnte:

ghoti

Das -gh- wird in engl enough ausgesprochen wie: F
Das -o- wird in engl. women ausgesprochen wie:   I
Das -ti- wird in engl nation ausgesprochen wie:  SH
Dies ergibt die  Aussprache fish für das fiktive Wort ghoti

 

Traditionen romanischer Schriften

In der Gruppe der romanischen Sprachen befinden sich eine ganze Reihe von Idiomen (oft regionale verbreitete Sprachen und Dialekte), die noch keine allgemein akzeptierte graphische Wiedergabe kennen, keine normierte (oder noch strittige) Schreibtradition, oder wie man dies von Literatursprachen kennt, noch keine Orthographie. Die zunächst als Willkürlichkeit wirkende Festsetzung von Schreibkonventionen folgt stets bestimmten Traditionen und verliert bei näherer Untersuchung den Aspekt des Willkürlichen.
Die französische Schriftsprache, seit dem 17. Jahrhundert normiert und institutionell überwacht (Académie Française) hat ihre schriftsprachlichen Traditionen bis in die Gegenwart weitgehend bewahrt, sich allerdings in der gesprochenen Sprache auch funktional weit von der geschriebenen Sprache entfernt. Im Italienischen und Spanischen ist die Distanz zwischen der gesprochenen und geschriebenen Sprache bei weitem geringer. Das Portugiesische hat in der jungen Tradition des Brasilianischen eine wesentlich geringere Distanz zwischen gesprochener und geschriebener Sprache aufzuweisen als das Portugiesische Portugals. Das Rumänische als die am jüngsten lateinisch verschriftete romanische Sprache - sie wurde bis Mitte des 19. Jh. mit kyrillischen Buchtaben geschrieben - weist nur eine geringe Distanz auf, da bei der Verschriftung bereits sprachwissenschaftliches Denken der Nähe zwischen Buchstabe (Graphem) und gesprochenem Laut (Phonem) eine Rolle gespielt hat. 
Das Französische, das auf die längste Schrifttradition der Romania zurückblickt,  kannte vor seiner Normierung zahlreiche Schriftvarietäten.  Im Altfranzosischen des 11. Jhs. etwa korrespondierte die Schreibung /rei/ (König) mit der Aussprache noch einigermaßen. Schon zwei Jahrhunderte danach wurde [roj] gesprochen und roi geschrieben, eine Schreibweise, die bis heute geblieben ist. Im 16. Jahrhundert schließlich entfernte sich die Aussprache [rwe] wieder von der Schreibweise. Erst mit der französischen Revolution setzte sich  die moderne Aussprache [rwa] durch, die nicht mehr zur Schriftform roi passt.


Neoromanische Graphien in der Sprachpolitik (Neuen Romania)


Die Verschriftung von Kreolsprachen und bislang schriftlosen Sprachen durch sprachpolitisch intendierte Sprachenplanung stellen Anforderungen an die graphematische Umsetzung. Im Falle der französischbasierten Kreolsprachen wird die mit der Verschriftung verbundene Problematik besonders deutlich. Der linguistische Idealfall, der darin bestünde, jedem Laut genau ein Graphem zuzuordnen, entfernt das sprachplanerische Objekt allzuweit vom Französischen: Die Interkomprehension, die für das Bildungssystem oft unabdingbar ist, leidet darunter (Beispiel 1 und 2). Die allzu starke Anlehnung an die Graphie der Basissprache (Beispiel 3) vermittelt den oft pejorativ genutzten Eindruck, es handele sich um eine korrupte Form der Basissprache, um ein "schlechtes Französisch" (Beispiel 3). Die Eigenständigkeit einer Verschriftung durch Schaffung von Graphemen, die im Französischen eine andere Bedeutung haben (Beispiel 1) kann zwar identitätsstiftend für die Sprachgemeinschaft sein und vermittelt den Eindruck der Eigenständigkeit der Sprache, hemmt aber die Interkomprehension (etwa das /h/ in Beispiel 1. Es nasaliert hier den vorangehenden Vokal, während es im Französischen historischer Ballast ist). Den Mittelweg stellt die phonetisch orientierte an das Französische angelehnte Graphie in Beispiel 2 dar.

Beispiel 1 Frankomauritianisch  (Mauritius) in eigenständiger Graphie (nach Philip Baker)


Eh zur ti ana eh kok bjeh maleh-bug. I ti reste pre ek lakaz Suhgula. Eh zur ti ehvit Sugula pu vin dezene avek li. Kok li dir avek so madam, Pul: "Ler Suhgula i vini, dir li moh pa la. Moh latet in al lapes, moh lekor i derjer lakwizin.

Beispiel 2 Seychellenkreolisch (Seychelles)

A lokazyon zozurnen Enternasyonal Zanfan ki pe selebre ozordi partou dan pei, patronn Konsey Nasyonal Zanfan Madam Geva René i swet zot tou marmay en bon lafet e dir ki fot espere ki tou dimoun dan zot alantour in fer zefor spesyal pou rann sa zour en zour ere.

Beispiel 3 FPA - Français populaire d´Abidjan (Côte d´Ivoire)

Lé Dié i lé prend cinq la journée pour fait tout lé quéque chose. Quant i lé ouvré son deux zié pour voir tout lé quéque chose qué i lé fait, ouala leur tout on sont zoli. Lé Dié i content. I besoin qué i va repos, i dit, qué i va fait lé nhomme. Alors i prend in pé la terre. I lé débrouillé! I lé fait lé nhomme.

 

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